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Mrz
2017

Canadian Cuts: Halifax* / Ice Cider

SWISS CUTS / Canadian Cuts: Halifax* / Ice Cider ( Der Tod des Botschafters)

Wenn Menschen sterben, fragst du nicht ... wo die Diamanten geblieben sind.


bymelsrose



Es ging ja alles durch die Presse.
Der Leuchtturm in Schweizer Farben bei den malerischen Hummerkörben wurde wie ein Wahrzeichen tausendfach fotografiert. Genau da lagen die Toten der Titanic und Mutter lebte seither nie mehr allein.
Wer kannte nicht den Friedhof von Peggy`s Cove? Wie oft träumte ich von diesen Wasserleichen: 1912 versunken am Eisberg, so hatte sich JP Morgan das Ende einer Jungfernfahrt bestimmt nicht vorgestellt ... und ausgerechnet dort ging deine Maschine runter, am friedlichsten Ort der Welt.
Marie hatte ihre alten europäischen Zelte am Genfersee fast komplett abgebrochen, das Haus sollte sowieso abgerissen werden. Ironie des Schicksals, irgendwie war sie sowieso am Packen. Das alte Bauernhaus mit dunkler Holzstube und jahrhundertealten Planken hatte sie schnell und reibungslos weiterverkaufen können, ohne dich machte der Umzug in das große Ding im Jura sowieso keinen Sinn mehr. Jetzt saß sie stattdessen in einem kleinen, alten Hafenhaus und stieß jeden Abend mit Ice Cider auf ihr neues Leben an. 19 Jahre sind eine Geschichte, die man nicht so einfach ablegen kann, egal, woran sie kaputt ging. Und heute weiß ich nicht mehr, was wir überhaupt noch wissen können.
Marie wurde jedenfalls erst hier im kanadischen Hafen zur fürsorglichen Vermieterin. Die ersten Tage stellte sie jedem neuen Gast Glühwein in einer Thermoskanne vor die Tür, damit man etwas hätte, wenn man vom Meerschauen zurückkam. Aber Nils trank nie. Er hatte ungefähr mein Alter, zumindest wirkte er so. Nils schrieb mir, er hätte sich Urlaub genommen und in diesem besonderen Fall machte niemand Probleme. Er stand täglich auf den Klippen und schaute hinaus aufs Meer. Selbst wenn er einen Elch sah, schien ihn die Beschaulichkeit nicht zu bekümmern, aber Marie wollte anfangs noch nicht mit ihm reden. Sie konnte nicht so schnell von fremd auf frei umschalten, warum sollte sie das auch. Sie kümmerte sich um internationale Gäste, nicht nur im Indian Summer, der seit ewigen Zeiten unsere Seelen fing.
Mutter spürte wohl schon länger keine Tränen mehr und Nils wusste auch, dass er dich dort an der rauen Küste nicht finden würde. Dennoch zog es ihn unentwegt zu den Wellen in der Nacht. Immer zur gleichen Zeit. Meist ging er leicht gebückt, immer mit verknotetem dicken Schal. Die kleine Wohnung reichte ihm, die Touristen waren meist aus dem kleinen Fischerhafen abgezogen ... und er versuchte zu landen, wenngleich er noch nicht zu wissen schien, wo das sein könnte, sein neues Land ... Manchmal, wenn es nicht zu stürmisch wurde, setzte er sich auf die breiten flachen Steine. Eine Wolldecke hatte er immer im Rucksack dabei. Manchmal hängte er sie einfach um die Schultern ... oder gleich über den ganzen Kopf. Überhaupt fiel es ihm sichtbar schwer sich aufzuwärmen. Die innerliche Kälte folgte ihm wie ein treuer Schatten.
Woher kanntet ihr euch? Nils hatte mir Briefe geschickt, aber wer konnte sagen, ob es wirklich deine waren? Ich hatte Marie gesagt, mach dir keine Gedanken, Ma, das will der nur, euch auseinanderbringen, das ist die Masche, glaub ja nicht, was du liest, das passt alles nicht zu dir, so warst du nie, Menschen sind zu allem fähig. Da du Marie immer gesagt hat, ich will nur, dass du glücklich bist, glaube ich längst nicht mehr allen, die sagen, sie hätten uns in ihr Herz geschlossen.
Die gute alte Tilla war so ein letztes Überbleibsel an vertrauenswertem Urgestein von Nova Scotia. Mit weit über 90 wurde sie dann doch zu schwach für B&B, so hatte sie schließlich Marie ihr buntes Haus in der Bucht vererbt, wie ein Geschenk für einen jahrelangen Gast ... oder eine neue Aufgabe gegen die treue Trauer.
Durch meinen Kopf geistern immer noch Zahlen: 1998 auf der Expo waren Ozeane wieder Hauptthema, Frankreich wurde zum ersten Mal Fußballweltmeister, die Potenzpille veränderte das Standvermögen, die EZB wurde gegründet ... und ein Pilot wollte im steilen Sinkflug Leben retten; ich wollte damals gerade in Paris mit meinem Studium beginnen und wünschte mir vor 19 Jahren wirklich, dass du einmal stolz auf mich wärest.
Nachts um halb vier beginnen manchmal meine Beine zu zittern. “Pan, Pan, Pan“. Was kann ich dafür, dass ich damals auf die Idee kam, den Fernseher anzustellen, was ich sonst nie mache.
Wieso fand ich CNN? Wieso musste ich das sehen?
Ich bin einfach aufgewacht. Ich war hellwach und wusste nichts besseres, als den Fernseher anzustellen und habe das Wasser gesehen ... und war so weit weg. Ihr seid einfach weg. Über 200 Menschen. Ich bin aufgewacht, als ihr gegangen seid. Der Spruch, da hast du wieder was an Land gezogen, schien mir, seit du weg bist, nie mehr ein Gewinn zu sein ... und Mutter hatte das Unterrichten aufgegeben. Geschichte und Politik blieben fortan ihre Privatsache.
Wir wussten wie immer nur, dass du wieder mal mitten in einer Recherchetour stecktest, aber wir hatten keine Ahnung, worüber deine Textarbeit diesmal ging. Du hattest aus deiner Arbeit und deinen Reisen nie viel Wind gemacht. Verschollenes konntest du gut ans Licht bringen. Nils blickte zu dir aufs Wasser wie getunnelt ... und ich beobachtete die gierig kreischenden Vögel. Die Teile schwammen an der Oberfläche, sie wurden abgefischt, kleine Stofftiere, Computertaschen, Kleider, und Nils sah überall dazwischen Erinnerungen an dich treiben. In manchen Zeitungen las man von abgetrennten Armen, Beinen, Köpfen, alles, nichts, was es nicht gab, verschluckt vom Meeresboden. Sie schickten einen mächtigen Meeressauger, ein niederländisches Containerschiff mit einer großen Saugmaschine, die den Meeresgrund durchwühlte, um nichts unversucht zu lassen, wenn es um Ursachenforschung ging. Die Ursachen müssten endgültig geklärt werden, damit so etwas nie wieder passieren könne.
Sie sprechen immer noch von einem endgültigen Beweis. Ich habe es bis heute nicht geschafft, für ein Jus-Studium den Kopf komplett frei zu kriegen. Seit es dich nicht mehr gibt, sichern mir stattdessen Online-Beschwerde-Briefe ein sicheres Einkommen. Sehr geehrte Geschäftsführung! Handeln Sie! Zeigen Sie mir, dass Sie Kundenanliegen mit einem "Wow-Effekt" zu einem zeitnahen, konstruktiven, kulanten und zukunftsorientierten Abschluss bringen können! Freundliche Grüße.
Marie sah ich immer im Dezember, sonst hätte sie mich wahrscheinlich enterbt. Nach Europa kam sie nicht mehr, als ob sie die weite Reise innerlich zu sehr erschüttern könnte. Sie blieb lieber, wo sie jetzt war. Was nicht hieß, dass sie überhaupt nicht reiste, aber sie vermied es, Meere zu überqueren ... und selbst die Schweiz war ihr zu unsicher. Kein Mensch konnte sich bisher ernsthaft vorstellen, dass im CERN etwas unkontrollierbar würde. Kleine regionale Betroffenheit, kleines technisches Intermezzo, wer glaubt schon Nostradamus, Genf geht nicht unter. In der Schweiz geht so was nicht. Im CERN wurde 1993 das Internet** offiziell freigeschaltet. Die Schweiz kennt sich aus mit Kontrolle. Ein Schweizer Botschafter stolpert nicht so einfach vor einen Zug ... beim Heimaturlaub... Die Zeitungsnotiz über den angeblichen Unfall in Sion, kurz nach deinem Absturz, hatte ich aufgehoben.
Nils wirkte durch meine Brillenträgerokulare betörend bescheiden ... und ich hielt eher ihn als dich für die Ursache meiner Zweifel. Auf den Klippen schien ihm weniger kalt zu sein, ich konnte ihn vom Fenster aus beobachten.
Marie war froh, dass es in der Bucht geschah und nicht auf dem offenen Meer. Sie hatte das Gefühl, das Wasser wiederzuerkennen am nächsten Tag, und am übernächsten, und so ewig weiter. Sie wünschte sich, den Wellen Namen zu geben, Farben zu geben, um sie von den fremden neuen, die dich noch nicht kannten, unterscheiden zu können, als ob sie Angst hätte, dass jede neue Welle unsere Erinnerung wegspült, bevor wir dafür bereit sind. Jeder hier in der Bucht hörte unweigerlich von dem Angebot, mit einem Boot hinauszufahren, so in etwa an die Stelle, wo es passierte. Die Versicherungen wollten das nicht übernehmen ... und es drohte schon zu platzen. Mitarbeiter vom Care Team machten es trotzdem möglich. Einige hatten Blumen ins Meer geworfen, es gab ein kurzes Gebet und eine Musikerin schlug eine Trommel, dann war alles wieder still. Juden, Christen, Muslime, Frauen, Männer, Kinder, Nils und Marie, sie saßen alle in einem kleinen Boot und hingen mit ihren Gefühlen irgendwo in der Mitte zwischen Himmel und Wellen fest, gedanklich verklebt zwischen intelligent vermeidbarer Katastrophe und unausweichlich gnadenloser Bestimmung. Das war das letzte Mal, dass Marie mit einem Schiff hinausfuhr.
Wieso sind sie nicht sofort runter, als etwas an Bord nicht mehr normal funktionierte? Wer brachte fremdes Material an Bord, das dort flugzeugtechnisch nicht hingehörte? Wie kam geschmolzenes Aluminium auf den Pilotensitz? Und Unmengen Magnesium, das allgemein bekannt und so genial für einen Brandsatz taugte? Oder was hat euch beschossen? Warum konnten Kabel im Unterhaltungssystem so einfach brennen und Isolationssysteme killen? Welche Energie vom Boden hat bei euch oben die Bordelektronik zerstört? Warum quälten mich manche Fragen mehr als andere? Warum gibt es kein Gesetz, dass Flugzeuge sofort landen können, wenn es etwas gibt, das nicht normal ist? Wieso schwimmen Flugzeuge nicht auf dem Wasser, fragte ein kleiner Junge, dessen Vater mit dir im selben Flugzeug saß, als wir im Hangar die Wrackteile besichtigen konnten. Ist das das Flugzeug meines Vaters, fragte er die Ingenieure. Warum sind das so viele winzige Teile, wollte er wissen. Um das herauszufinden, dafür sind wir hier, antwortete ihm ein Sachverständiger mit traurigen Augen. Ich konnte mich nur an traurige Augen erinnern. Ich konnte Nils nicht in die Augen sehen. Ferngläser sind eine prächtige Erfindung.
Wo liegt der Sinn, die Frage kam zu mir und ging nur schleppend. Als ob eine ganze Schar von euch zusammen abgezogen wurde, weil ihr wichtigere Aufgaben zugeteilt bekommen solltet. Auf Erden in Ehren ausgedient und nun weiter in höheren Sphären verpflichtet. Wie jeden Abend, wenn Marie am Meer stand, überfiel sie plötzlich Dankbarkeit, dass es dich in unserem Leben überhaupt gab.
Wäre ich reich, ich würde diese James-Bond-Amphibienflieger bauen lassen und zum Standard machen für interkontinentale Flüge.
Nils wird vielleicht irgendwann die Küste hier verlassen und genauso abtauchen, wie er mit dem Absturz in unser Leben prallte, unvermutet und ziemlich ruckartig. Vielleicht war er der Bombenbastler und kannte deinen Namen nur aus der Presse und bestaunte hier unerkannt sein Werk ... Ich versuchte mir mit unleserlichen Kritzeleien den Anteil Mut an seiner Reue auszurechnen. Jeder krallt sich daran, was ihm gut tut.
Irgendwann werde ich bereit sein, Nils Briefe, seine Mails samt Laptop, einfach ins Meer zu werfen. Ich will, dass die Briefe bei dir sind ... und dass sie für immer vergehen ... und nur ihr beide kennt den Grund. Danach werde ich mich besser fühlen. Die Liebe ist kein Pullover, den man sich einfach überziehen kann ... und dann passt das schon. Liebe muss von innen nach außen wachsen ... und das braucht Zeit.


Über die letzten sechs Minuten gab es keine Aufzeichnungen, sagten die Ermittler. Die Black Box hatten sie nach Monaten gefunden, aber die letzten sechs Minuten fehlten. Du hattest die Schwimmweste unter deinem Sitz hervorgezogen, wie du es tausendmal im Demovideo gesehen hattest, du hattest schon gar nicht mehr hingeguckt und nie gedacht, dass es irgendwann mal ernsthaft dazu kommen würde. Du hattest die Schwimmweste angezogen und dann gingen wohl schon die Lichter aus. Ich wollte es mir leicht machen. Es war alles schwarz, oder vielleicht hattest du ein bisschen Licht an der Küste gesehen? Vielleicht hattest du im Flugzeug gerade einen Abschiedsbrief geschrieben? Vielleicht lag auch dieser Brief in deinem Computer ... unveröffentlicht ... im Meer ... und verflüchtigte sich, weil seine Worte zu schwer waren, nur langsam. Vielleicht hatte es euch nie gegeben? Vielleicht wollte sich hier nur ein Nobody wichtigtun, weil es eine gute Möglichkeit war, einmal Im Leben in die Schlagzeilen zu kommen, so geschmacklos das klang, jetzt, wo du für immer weg warst? Dein letztes Buch über das Spiel mit der Angst im Kalten Krieg wurde ein Bestseller. Jetzt wussten alle, dass die Russen damals nie hätten angreifen können, der Eiserne Vorhang war eine geniale Rechtfertigungs-Inszenierung. Fast wie im Irakkrieg. Alles fast wie immer. Beginnen wir den Krieg mit einer Lüge.
Deine vorletzten Recherchen drehten sich um Monsterbanker, mehr weiß ich bis heute nicht. Ich wusste auch nicht, ob Nils wichtig war. Ob Sohn oder Lover, was spielte das jetzt überhaupt noch für eine Rolle. Was Marie wirklich über euch wusste. Wer hier was seit wann von wem wusste. Wer sich für die Fracht interessierte. Sie hatten uns um Blut- und Haarproben gebeten. Sie hatten ein Computerprogramm entwickelt, weil noch nie so viele DNS-Proben auf einmal verglichen wurden. Sie nannten das eine traurige Aufgabe. Gentechniker stellten DNS-Übereinstimmungen fest. Die sterblichen Überreste, Leichenbestandteile, Teile, sie wurden gewaschen. Vom Meer gewaschen. Erst wurden sie gewaschen, dann gekühlt. Und tiefgefroren. Bevor sie ins Institut überführt wurden, sortierte man sie der Größe nach. Sie wollten doch so schnell wie möglich einen Totenschein. Und ohne eine sicher identifizierte Leiche kann kein Totenschein ausgestellt werden, in der Regel. Wir haben alles getan, damit Sie nicht ohne dieses Papier nach Hause gehen, sagten sie uns immer wieder, aber ich hörte sie kaum. Sie hatten in nur drei Tagen Proben von 170 Familien gesammelt, weil sie wussten, wir würden alles für unsere Liebsten tun. Sie hatten nur ihren Job gemacht ... wie jeder Arzt und Genetiker weltweit. Wer interessierte sich schon für die Fracht an Bord. Wenn Menschen sterben, fragst du nicht, wo die Diamanten geblieben sind. Was hätte ich denn getan? Aluminiumfolien und Magnesiumtabletten kamen mir nicht mehr ins Haus. Ich will immer noch irgendwann mein Studium beginnen und Unsinniges vergessen. Marie hatte alles, was familiär und mit deinen Buchrechten zu regeln war, geregelt. Geld war nie mehr ein Problem. Vielleicht wollte sich Nils von diesem Kuchen ein Stück abschneiden. Ich ertrug sein Auftauchen im Hafen mit gleichgültigem Widerwillen, mein Denken wurde zum wiederholten Widerspruch. Ich wollte mich nicht an einen fremden Mann binden, der mir einreden wollte, dass er ein Teil meines Lebens war, er war es nicht. Und doch wusste ich, dass es stimmen könnte. Braucht er mich jetzt, gib mir ein Zeichen, braucht Nils uns? Braucht er deine Forschungsergebnisse? Ich konnte noch nicht an dich denken, ohne bedrängt zu werden. Woran hattest du zuletzt gearbeitet, Aids, Klima, China und wer wusste davon? Wo und durch wen leben deine Erkenntnisse weiter? Jedes Mal, wenn ich hinter mich blickte und den Umriss eines Menschen erkannte, flüchtete ich anfangs davon. Wenn es ein Fremder war, der mich ansprach, redete ich nicht, blickte nicht auf, ich fing an zu laufen, wie ein kleines Kind, das zurück in die Arme des Vaters lief, weil es sich trösten lassen wollte, aber den Vater nicht mehr fand. Ich wollte nur meine Ruhe haben. Unsere Ruhe zuerst, und dann irgendwann wieder meine Ruhe für mich. Das wird Nils verstehen, wenn er dich wirklich liebte, wird er uns respektieren. Darauf vertraue ich. Und wenn er dich liebte, dann ist er ein Teil meines Lebens, und ich werde ihm, Achtung, große Worte, irgendwann verzeihen.
Marie hatte mir gesagt, sie würde Nils treffen, wenn ich einverstanden wäre. Was sollte ich ihr antworten? Ich weiß immer noch nicht, was Marie wirklich weiß oder wissen will. War Nils deshalb so aufgewühlt, weil er dir noch etwas sagen wollte, und jetzt hat er nur mich? Nur uns? Hat er das? Weiß ich noch, wer du wirklich bist? Ich fliege nur noch, wenn es absolut unvermeidbar ist. Ich habe mich an die Schiffspassagen gewöhnt. Selbst meine Abneigung gegen Diamanten wurde mit der Zeit erträglicher. Es wurde mir egal, ob Nils leidet, weil es dich nicht mehr gab. Es ging mich nichts an. Es war nicht mehr unsere Geschichte. Welche Farbe hat der Tod? Blau wie das Meer. Welche Farbe hat die Liebe? Die Sehnsucht. Türkis. Der Tod ist Türkis wie die Liebe. Manchmal verschwamm mir alles.
Es gab Tage und Marie aß nicht. Sie kriegte keinen Bissen hinunter. Es drückte ihr im Hals wie ein Kloß, den man ihr zwischen die Brust geschnallt hatte, und sie atmete immer weniger. Ich zwang mich, richtig zu atmen. Tief und bewusst. Es war eine Last, zu lernen, nie zu wissen. Ich wurde fett vom Sitzen, als ob das alles nicht schon genug wäre.
Ein mächtiger Gedenkstein wurde aufgestellt. Es gab mit den Jahren immer mehr Tage, an denen Nils die Welt außerhalb der Bucht wieder zu erkennen schien. Es gab Abende, und er ging, ohne mit dir geredet zu haben, fast erleichtert wippend wieder von den Klippen nach Haus. Nach Hause hieß, zurück in die kleine Ferienwohnung, die ihn seit Jahren beherbergte. Er arbeitete nicht mehr. Ob er Versicherungen verkaufte oder nicht, was soll`s? Er war älter geworden, was nicht allein daran liegen konnte, dass das Wetter hier wilder war, oder er noch nie in seinem Leben so viel an der Luft war ... oder noch nie so viel geraucht hatte. Auch Maries Haare verloren ihre natürliche Farbe. Sie zog sich immer noch einzelne graue Strähnen aus, färben kam nicht in Frage. Nicht jetzt. Marie ertrug keine Kosmetik. Manche Frauen schnitten sich als Zeichen der Trauer ihr Haar ab. Das hatte sie nicht getan. Es sind deine Haare, weil deine Hände darin lagen und sie streichelten. Es sind deine Haare, weil sie an deinem Schweiß klebten. Marie war müde. Sie war noch nie in ihrem Leben so müde. Ihr Herz ist sogar mir zu schwer geworden. Ich müsste mir eine Gefühlsdiät verordnen, es wiederholt sich ja doch alles. So ein Regler, der nur neue Gefühle hineinlässt, aber keine Litaneien akzeptiert. Das sollte ich noch erfinden. Zu Weihnachten bekam Marie von mir eine Statue von Bruno Catalano. Die Reisenden mit den magischen Lücken. Auch eine Form von vollendetem Ausdruck ...
Dein altes Fernglas hatte ich zu dir ins Meer geworfen, als Nils Marie zum ersten gemeinsamen Ice Cider einlud ... und Mutter glatt zusagte. Sie hatte dein Hemd angezogen, Max. Sie liebt diese Farbe. Sie hatte es nie gewaschen. Du hattest es ihr gelassen, wie immer, wenn du auf Reisen gingst. Du hattest Marie immer ein getragenes T-Shirt oder Hemd ins Bett gelegt. Das türkisfarbene Hemd hatte sie dir für die Reise geschenkt. Es gibt eine Mutter, die hat ihren einzigen Sohn verloren. Sie kommt nicht. Er ist auch nicht hier. Jeder geht seinen Weg. Was sind schon 19 Jahre, seit es dich nicht mehr gibt? Mein Brief-Beschwerdebüro floriert. Nils wahre Vergangenheit steht in den Sternen wie der nächste Brandsatz. Dinge ändern sich schnell. Nils konnte wohl nicht anders, als hier zu sein, aber wie geht Verzeihen? Vielleicht ist das das Letzte, was du uns wünschst? Vielleicht ist auch das deine größte Angst geblieben, dass du nicht mehr sagen konntest, wie es wirklich war? Wer wir wirklich sind? Manchmal wollte ich sagen können, ich höre dich, ich weiß, ich weiß alles, was du mir noch hättest sagen wollen, es ist gesagt, es ist alles da und gut, sei beruhigt, du kannst ruhig gehen, geh in Frieden, mach´s gut, und ich wünschte mir nur eins, du mögest meine Gedanken spüren, wie sie zu dir wandern. Es ist gut, schreit mein Herz nicht mehr, es flüstert auch nicht, es ist gut … ungesagt.






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* Im September 1998 endete der Swissair-Flug 111 von New York nach Genf vor Halifax/Nova Scotia im Atlantik. Die Figuren des vorliegenden Textes „Halifax“ sind frei erfunden.

Im Gedenken.


Zwischen die Gedanken über den Verlust streut M. S. Rose Fakten und schafft somit Distanz zum emotionalen Geschehen. Dennoch sind Trauer und Verlust immer spürbar. (Berner Zeitung)
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M. S. Rose

Willkommen! Welcome & Bienvenue!

Willkommen im Bloggarten der Autorin M.S. Rose / Pics (Olympus/Sony) © Texte/Fotos: M.S.Rose. / Kontakt: blues68(at)hotmail.de // ... Wenn enttarnte Tycoone bei einem warmen Essen für die humane Lesson in Share `N Compassion brennen, werden Kulturen von Erpressbaren zu Mangelwaren.

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